30 Jahre Lupus – leben im Paralleluniversum
Meine Normalität ist nicht Deine
Irgendwann 1993 wurde mir ein Weisheitszahn gezogen. Das Procedere war problemlos, die Nacht danach nicht. Ich hatte solche Schmerzen im Knie, dass ich meine Hausärztin zum frühmorgendlichen Hausbesuch rief. Wer mich kennt, weiss: dass mache ich sonst nie. Nie.
Mir war damals zu keinem Zeitpunkt klar, dass das jetzt so bleibt. Dass Schmerzen mein fast täglicher Begleiter sein werden. Dass ich die Kontrolle über meinen Körper nie mehr komplett zurück gewinnen werde. Dass meine Normalität ab jetzt eine andere ist.
Da es bis zur Diagnose sieben Jahre dauerte, blieb diese Erkenntnis auch noch lange fern. Viele Jahre dachte ich, dass irgendwann die Lösung gefunden wird und ich zurückkehre in die „Normalität“.
Nach 30 Jahren ist meine Normalität 20 – 50 Arztbesuche pro Jahr, halbjährliche Chemotherapien, tägliche Einnahme von Cortison und Immunsuppressiva und einigen weiteren Medikamenten, 5 Autoimmunerkrankungen, monatliche Blutkontrollen, einige Neben- und Folgeerkrankungen, Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit, finanzielle Abhängigkeit.
Was „Eure“ Normalität ist, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Zu jung war ich damals, zu lange ist das her.
Welche Normalität ich mir heute wünsche, das weiss ich allerdings ganz genau.
Atmen – tief und entspannt durchatmen
Aufwachen – ohne an die heutigen körperlichen Unfähigkeiten und Fähigkeiten zu denken
Gehen – schmerzfrei und unbegrenzt
Gucken – ohne Overload oder Neidattacke
Schlafen – ohne Schmerzen
Denken – einfach mal zielführend zu einem Thema denken, ohne Abschweifung durch Brainfog, mental Overload oder schlichter Fokussierung auf Schmerzbekämpfung
Wie ist es mit dem Fahrrad loszufahren und nicht erst Strecke, Gepäck und Akkuleistung genau zu durchdenken, nur um am Ende doch total erschöpft zu sein.
Wie macht man einen Spaziergang, wenn einem Steigungen, Gelände, Toiletten total egal sind und man nicht während des Hinweges über den Rückweg nachdenkt?
Wie lebt sich ein Alltag, der nicht um Leistungsfähigkeit und Beweglichkeit täglich neu herum gebastelt werden muss?
Wie ist es für sich selbst sorgen zu können, sich nicht rechtfertigen zu müssen, seinen Job einfach aussuchen und erfüllen zu können?
Wie fühlt es sich an nicht permanent kämpfen zu müssen? Um Termine, um Sozialleistungen, um Medikamente, um Inklusion. Um ein bisschen Normalität?
Wie ist es, wenn man um alltägliche Verrichtungen nicht bitten und warten muss, sondern sie einfach selbst erledigen kann?
Ich suche nicht mehr „Eure“ Normalität. Aber ich sehne mich nach ein bisschen mehr Einfachheit für meine.
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Hallo liebe Antje,
ein sehr guter Artikel, der das Leben mit Lupus/Kollagenose auf den Punkt bringt. Hättest Du Lust ihn auch auf unserer Seite https://waisen-der-medizin.de einzustellen. Ich denke sehr viele von uns finden sich in Deinem Bericht wieder und es wäre toll wenn er so viel Verbreitung wie nur möglich finden würde. Falls Du Interesse hast kannst Du mir vielleicht einfach eine kurze mail an shg.diagnoselos@web.de schicken, ich leite es dann weiter.
Wäre toll wenn das klappt, in diesem Sinne schicke ich Dir herzliche Grüsse
Daniela