Alltagsgeschichten – Von Wölfen und Katzen

Alltagsgeschichten – Von Wölfen und Katzen

Ich habe zwei Haustiere: Eine zu Übergewicht neigende Tigerkatze namens Lara, die am liebsten Schatten jagt und sich gerne als gnädige Diva mit einer Vorliebe für Schinken gibt – und einen Wolf namens Lupus, der am liebsten mich jagt und sich gerne als unauffällige Krankheit mit einer Vorliebe für Gelenke gibt. Beide sind etwas ganz Besonderes. Meine Katze deswegen, weil sie lieber an meiner Pfefferminzpflanze knabbert, anstatt an Katzenminze, sie lieber Spinnen als Mäuse jagt und liebend gerne mit Plastiktüten kämpft. Mein Wolf, weil er zwar relativ häufig vorkommt, aber dafür relativ schlecht bekannt ist. Wenn ich von meiner Katze erzähle, dann hören alle amüsiert zu – erzähle ich von meinem Wolf, dann fragen alle nach meinen Medikamenten. Und all die Leute, die noch weniger Ahnung haben wie die, die sich sowieso schon kaum auskennen, sagen Sätze wie: „Aber Dir geht es gut, oder?“ – „Aber Du bist doch glücklich, oder?“
Um das mal klar zu stellen: Natürlich geht es mir gut, und glücklich bin ich natürlich auch. Welchen Grund hätte ich, nicht glücklich und zufrieden zu sein? Ich habe eine liebe, schmusige Katze, wer könnte da unglücklich sein?
Mit meinem Wolf ist das ein bisschen anders. Den wäre ich lieber wieder los oder zumindest würde ich ihn gerne hin und wieder eine Zeitlang weg sperren können. Der ist nämlich sehr treu und anhänglich und man wird ihn nicht wieder los, wenn man ihn mal an der Backe hat. Und mit meiner anfänglichen Vermutung, er ließe sich mit ein paar Leckerchen täglich im Schach halten, lag ich völlig falsch. Man kann ihn mit den Leckerchen davon abhalten, mich zur Strecke zu bringen – zumindest haben sich in dieser Hinsicht die Aussichten in den letzten Jahren deutlich verbessert – aber er wird mich nicht aus den Augen verlieren, hin und wieder irgendwo an mir knabbern und dabei mehr oder weniger großen oder kleinen Schaden anrichten. 

Alltagsgeschichten - Von Wölfen und Katzen
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Wolfstage – Alltagsgeschichten – Von Wölfen und Katzen

„Wie erlebst Du eigentlich einen Tag mit Dir und Deinem Lupus?“
Ich habe mich schon oft gefragt, warum mir niemand solch eine Frage stellt. Natürlich erkundigt man sich hin und wieder, wie es mir geht. So zwischen Tür und Angel, während der Fragende schon mit einem Huf am Scharren ist. Kurze Frage – kurze Antwort. Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Natürlich könnte ich dann gemein sein und erst mal Minutenlang jammern – ohne Punkt und Komma natürlich, damit der Fragende keine Gelegenheit erhält, sich zu verdrücken, wenn er es nicht mehr hören kann. Aber wenn ich so höre wie über Mitmenschen, die genau das tun, hinter ihrem Rücken geredet wird, dann vergeht mir die Lust auf eine Antwort.
Leider habe ich inzwischen festgestellt: Bei manchen Menschen ist eine ehrliche Antwort nur erwünscht, wenn sie gelogen ist und ich bin es inzwischen leid, bei jedem zwischen ehrlichem Interesse und sporadischer Frage zu unterscheiden.
Wie also erlebe ich nun einen Tag mit mir und meinem Lupus?
Es fängt damit an, das ich mich schwer tue, aus dem Bett zu kommen. Erstens bin ich nie ausgeschlafen, egal wie lange ich geschlafen habe, zweitens habe ich Probleme damit, meine eingerosteten Gelenke der Reihe nach aus dem Bett zu bewegen. Ich habe einen unangenehmen, nagenden Dauerschmerz in meinen Fußgelenken, Knien, Hüften, Schultern, Ellenbogen, Handgelenken und Fingern und wenn ich mich bewege, dann kommt ein reißender Schmerz dazu. Jedes Gelenk wünscht mir auf diese Weise einen guten Morgen während ich versuche, beim Aufstehen nicht alle auf einmal aufzuwecken. Außerdem habe ich Gliederschmerzen wie bei einer Grippe, Kopfschmerzen wie bei einer Grippe und mir ist übel, denn mein Kreislauf ist ebenfalls beleidigt wie bei einer Grippe. Der erste Gang auf die Toilette ist das Schwierigste, denn ich stoße dabei überall an, am liebsten gegen den Türstock. Manchmal dreht sich auch meine Welt unwillkürlich zur Seite, so das ich irgendwo gegen falle und mich auf den Boden setzen und fest halten muss um meine räumliche Orientierung wieder zu finden. Danach muss ich allerdings auch wieder hochkommen und meine Katze ist so nett, mir schnurrend zu schmeicheln bis ich das geschafft habe. Ich hatte auch schon Zeiten, wo ich mich Morgens regelmäßig übergeben musste, aber das brauche ich glücklicherweise momentan nicht mehr in Kauf zu nehmen. Insofern könnte man schon sagen, das es mir besser geht! Gut geht es mir trotzdem nicht. Das Aluschälchen Katzenfutter steht geöffnet im Kühlschrank, weil ich mir in der Früh besseres vorstellen kann, als mit steif anmutenden, schmerzenden Fingern den Deckel aufzufummeln und die Raubtierfütterung findet nicht am Fußboden statt, sondern auf einer Kommode. Meiner Katze ist das egal, wenn ich nur schnell genug mit dem Futter rüberkomme. Und ich bin froh um diese Lösung – und meine flexible Katze – denn es ist nicht gerade angenehm, wenn man beim Herunterbücken das Gleichgewicht verliert und sich dabei den Schädel prellt, der ohnehin schon weh tut. Ich füttere immer zuerst meine Katze, bevor ich mein eigenes Frühstück mache, denn ich diniere ja mit meinem Wolf und der lässt mich, wenn ich mal sitze, nicht so schnell wieder aufstehen. Es dauert lange, bis ich meinen Frühstückstisch gedeckt habe, denn ich kann mich schlecht konzentrieren und neige dazu die Hälfte zu vergessen. Wenn ich mich dann endlich hinsetzen kann, bin ich erleichtert. Ich nehme meine Tabletten zuerst, die sind mein größter Trost am Morgen, dann frühstücke ich pflichtbewusst. Das Brot streichen, das Öffnen eines Marmeladenglases, das Aufziehen einer Wurstpackung oder weg ziehen eines Milchtütenverschlusses ist mit Schmerzen verbunden. Manchmal esse ich das Brot trocken und trinke meinen Kaffee schwarz – wenn ich einen schlechteren Tag habe als einen üblichen Tag.
Mindestens eine Stunde dauert es, bis ich Aufstehen und mich waschen kann. Früher habe ich jeden Morgen geduscht, aber ich brauche zu lange mit dem Abtrocknen und müsste in die Badewanne ein- und aussteigen um duschen zu können. Meine morgendlichen Tabletten haben den Gelenkdauerschmerz weggezaubert, aber beim Bewegen oder Aufstützen quält mich mein Wolf weiterhin und ich fühle mich noch immer so, als ob ich eine Grippe hätte. Also wasche ich mich etappenweise von oben bis unten am Waschbecken ab. Es dauert eine halbe Stunde, bis ich fertig bin, denn ich gönne mir den Luxus der Langsamkeit dabei. Wenn ich zu schnell mache, fällt mir alles aus den Händen und ein paar mal Bücken am morgen würde mir den Tag endgültig verderben. Die nächsten Probleme kommen beim Anziehen. Es ist nicht einfach, ein Oberteil anzuziehen, wenn man die Arme nicht richtig über den Kopf bekommt. Und es ist noch schwerer, in eine Hose zu steigen wenn man sein Bein nicht weit genug hochheben kann um die Öffnung zu treffen. Zu weit herunter beugen ist auch nicht drin, denn dann verwandelt sich der Fußboden in etwas unkalkulierbar Bewegliches und ich werde seekrank. Aber es gibt ja für alles eine kreative Lösung. Bis jetzt habe ich es trotz aller Unannehmlichkeiten noch immer geschafft, gewaschen und angezogen zur Arbeit zu erscheinen… Unangenehmer wird es beim Haarewaschen. Da muss ich mich nach vorne beugen, den Kopf unter den Wasserhahn halten – und die Augen offen lassen, wenn ich nicht völlig die Orientierung für seitwärts, oben und unten verlieren und mir in Folge dessen ständig den Kopf an Wasserhahn und Beckenrand anstoßen möchte… ein bis zwei Prellungen am Tag sind ja noch in Ordnung, aber mehr muss es wirklich nicht sein. Bis ich fix und fertig angezogen und quasi „Straßentauglich“ bin, kann schon mal eine Stunde vergehen, aber dann werde ich langsam optimistischer, denn das Schlimmste habe ich hinter mich gebracht. Danach ruhe ich mich erst einmal aus.
Ausruhen könnte ich den ganzen Tag, wenn es nach meinem Wolf gehen würde und meine Katze hätte sicher auch nichts dagegen. Aber es ist kein Ausruhen im gesunden Sinne, wo man sich hinterher in der Lage fühlt, Bäume auszureißen oder seinem Wolf den Hintern zu versohlen – was ich zugegeben gerne mal machen würde. Das Ausruhen gleicht eher einem Konservieren der momentanen Verfassung. Es geht einem hinterher nicht wesentlich besser, aber es geht einem wenigstens auch nicht wesentlich schlechter.
So verbringt man den ganzen Tag damit, nach jeder Anstrengung eine Pause einzulegen oder sich wenigstens optimistisch eine zu wünschen. Man nimmt die eine oder andere Schmerztablette, wenn sich der Dauerschmerz alle 4 bis 6 Stunden wieder in die Gelenke schleicht oder man hält es einfach trotzig aus, wenn man es sich leisten kann. Die Gliederschmerzen verwandeln sich mit zunehmender Bewegung in schwere Glieder, dessen Muskeln irgendwie an Depressionen zu leiden scheinen. Man muss Türen, die man vorher „mit links“ aufbekommen hat, mit beiden Armen und ganzem Körpereinsatz öffnen. Eine volle Kaffeekanne scheint auf der Tischplatte fest geklebt zu sein. Jemand gibt einem herzhaft die Hand und man versucht die Zähne zusammen zu beißen und demjenigen nicht zur Strafe eine Ohrfeige zu geben. Man hofft bei jeder Treppe, die man abwärts geht, das Knie möge nicht ein knicken und fühlt sich bei jeder Treppe nach oben, als ob man unzählige Kilos mehr mit hoch schleppen müsste. Man muss Schmerzmittel nehmen, wenn man etwas mit Freunden unternehmen möchte, damit man nicht schon nach ein bis zwei Stunden schlapp macht und ihnen den Spaß verdirbt. Ein banaler Einkauf, ein bisschen Haushalt oder das Kochen einer Mahlzeit müssen wohl überlegt und eingeteilt werden, denn plötzlich ist es so, als wäre die Kraft begrenzt für einen Tag. Gibt man zuviel davon auf einmal aus, dann muss man woanders einsparen. Das führt dazu, dass man an einem Tag entweder arbeiten oder einen Arztbesuch erledigen oder seine Einkäufe tätigen oder etwas unternehmen oder seinen Haushalt machen kann. Das Leben besteht nicht mehr aus „und“, sondern nur noch aus „entweder oder“. Es ist nicht einfach, sich an so etwas zu gewöhnen und es ist auch nicht einfach, das eigene Umfeld daran zu gewöhnen. Man wird zu einem Stubenhocker, der nicht nur auf der Flucht vor der Sonne ist, sondern auch auf der Flucht vor den eigenen Unzulänglichkeiten. 

Mit dem Wolf zur Arbeit – Alltagsgeschichten – Von Wölfen und Katzen

Es ist nicht erlaubt, Haustiere zur Arbeit mit zu bringen, schon gar nicht im Krankenhaus. Leider hat mein Wolf das noch immer nicht eingesehen, aber ich gebe mir wenigstens Mühe, ihn so gut es geht vor den anderen zu verstecken. Meistens gelingt mir das auch gut, aber es gibt Tage, an denen ich noch von anderen Gemeinheiten geplagt werde oder von der Gemeinheit an sich, dass mein Wolf schlichtweg aktiver ist als sonst. Was machen die schmerz- und fiebersenkenden Tabletten eigentlich an solchen Tagen? Spielen die Tennis mit der Leber, statt an die lechzenden Rezeptoren an zu docken? An solchen Tagen muss ich mich schon vor der Arbeit fragen, ob ich den Arbeitstag überhaupt schaffe, aber wie soll ich das entscheiden? Wo ziehe ich die Grenze? Irgendwo zwischen 37, 8 und 38,5 Grad Temperatur? Oder irgendwo zwischen kraftlos und schmerzgeplagt? Oder irgendwo zwischen Selbstmitleid und Krankheitseinsicht? Oder irgendwo zwischen Gewissen und Gewissenhaftigkeit? Oder irgendwo zwischen der Unkollegialität, jemanden einspringen zu lassen und der Unkollegialität, mich so zu blicken zu lassen?
Ich habe in diesem Moment niemanden hinter mir stehen, der mich an meine Grenzen erinnert. Freilich, wenn es nach meiner stets geduldig drein blickenden Katze ginge, dann könnte ich wahrscheinlich jeden Tag zuhause bleiben, aber die hat ja glücklicherweise nichts zu sagen und schließlich will ich mich ja auch nicht kampflos meinem Wolf ergeben.
An schlechteren als üblichen Tagen kann ich meinen Wolf am Arbeitsplatz nicht mehr so ganz verstecken. Er verdirbt mir das Lachen, nimmt mir die Sprache und verbietet mir die Scherze. Aber meine Arbeit mache ich nach wie vor, alle meine Patienten werden gewissenhaft von mir versorgt. Vielleicht wische ich mal einen Tisch nicht ab, oder ich vergesse ein Kleidungsstück für den nächsten Tag rauszusuchen oder ich frage einen Kollegen, ob er mir beim Herumwuchten eines Patienten hilft oder ich stehe nicht sofort auf, wenn jemand ruft oder ich bin etwas langsamer bei meiner Arbeit als sonst. Aber ich habe für meinen Wolf noch nie eine Überstunde gemacht oder von einem Kollegen verlangt oder erwartet, dass er mir meine Arbeit abnimmt. Ich habe auch noch keinem Kollegen verwehrt, eher nach Hause zu gehen und mich alleine mit meinem Wolf und 24 Patienten sitzen zu lassen, egal wie es mir geht und egal, ob ich vielleicht gerade selber am liebsten das Weite suchen würde.
In der Regel werde ich an meinem Arbeitsplatz wie ein Gesunder behandelt und das ist mir noch lieber, als bemitleidet zu werden. Natürlich musste ich vieles an meiner früheren Arbeitsweise überdenken und verändern, denn ich bin gezwungen mir meine Kraft so einzuteilen, dass sie möglichst für einen ganzen Arbeitstag ausreicht, obwohl von meiner Verfassung her der Tag schon nach 5 bis 6 Stunden für mich gelaufen ist. Ich kann es mir nicht mehr leisten, den ganzen Tag ständig herumzurennen, sondern muss Tätigkeiten zusammenfassen oder so verteilen, dass sich anstrengende Arbeiten mit leichteren abwechseln. Die meisten Tätigkeiten sind inzwischen für mich schmerzhaft geworden, müssen aber trotzdem erledigt werden. Und meine, sich allmählich verabschiedende Muskelkraft, mit der ich vorher noch einiges ausgleichen konnte, lässt mich zuweilen schon mal erfinderisch werden, wenn es darum geht, Schwergewichtiges zu bewegen. Es gib natürlich auch Dinge, wo mir meine Tricks nichts mehr helfen – z.B. ein Bett durch die Gegend zu schieben oder eine Sauerstoffflasche auszuwechseln oder alleine einen schweren Patienten zu lagern.
Ich gebe mir trotzdem Mühe, mein Haustier zu verstecken, wenn ich meinen Arbeitsplatz betrete, versuche meine Schmerzmittel einzunehmen, wenn keiner hinsieht, versuche frisch auszusehen, wenn meine Augen zu fallen wollen und zu lächeln, wenn jemand freundlich oder unfreundlich zu mir ist.
Dafür nehme ich mir das Recht heraus, nicht jede vorschnelle, unpassende Bemerkung ohne Gegenschlag einzustecken – nur weil ich ein Haustier namens Lupus habe, heißt das noch lange nicht, das ich mich von jedem beißen lasse. Und ich nehme mir auch heraus, nicht auf jede gut gemeinte Frage nach meinem Befinden zu antworten – nur weil ich ein kommunikativer Mensch bin, heißt das noch lange nicht, das ich Lust darauf habe jedem die Ohren vollzujammern bis es ihm zu selbigen wieder heraus kommt.
Und wenn ich dann wieder einen Arbeitstag mit meinem Wolf geschafft habe und es mir danach zu anstrengend ist zu Fuß nach Hause zu gehen, dann nehme ich es mir heraus mit dem Taxi heimzufahren und trotzdem stolz auf meinen ganz persönlichen Triumph über mein „Haustier“ zu sein – nur weil ich eine chronische Krankheit habe, heißt das noch lange nicht, das ich chronisch frustriert sein möchte.
Trotzdem bleiben Zukunftsängste. Ich weiss nicht, wie lange ich gute Miene zu bösem Spiel machen kann und wie lange mein Arbeitgeber und meine Kollegen gute Miene zu meiner Krankheit machen können. Irgendwann wird man keine Lust mehr haben mit mir zu arbeiten und man wird keine Lust mehr haben, mich zu sehen und zu hören. Zuerst wird man froh sein, wenn ich krank zu Hause bleibe, dann wird man hoffen, dass ich gar nicht mehr komme. Diese Zukunftsaussichten machen mehr Angst als der Wolf an sich. 

Der Charakter des Wolfes – Alltagsgeschichten – Von Wölfen und Katzen

Übrigens nenne ich die Krankheit Systemischer Lupus erythematodes (auch kurz SLE genannt) nicht deswegen Wolf, weil sie so reißend ist, sondern weil „Lupus“ ganz einfach übersetzt „Wolf“ heißt.
SLE ist mit 50 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern häufiger, als man wegen des allgemein niedrigen Bekanntheitsgrades annehmen könnte. Und viele Leute denken noch heute bei dem Begriff „Autoimmunkrankheit“ an AIDS und Ansteckung. Das sind nicht die einzigen falschen Vorurteile, mit denen Lupus-Leidensgenossen von ihrem Umfeld konfrontiert werden. Auch Äußerungen wie: Hauttuberkulose, allergische Reaktion, Abwehrschwäche, eingebildete Krankheit, Psychosomatiker, Stoffwechselerkrankung, Arthrose oder Rheuma kommen durchaus vor – was den Bedarf an Aufklärungsarbeit zeigt. Weitere – teilweise recht amüsant anmutende – Meinungen von Nicht-Fachkundigen, von denen Ärzte leider nicht immer ausgenommen sind, bestätigen den Bedarf an Aufklärungsarbeit:

– Die Krankheit ist nur eine Frage der Einstellung – positiv denken!
– Kein Lupus ohne Gesichtserythem
– psychisch krank
– Die Krankheit kommt von einer übertriebenen Selbstbeobachtung
– „Das tut doch nicht weh, oder?“
– „Nimm bloß kein Kortison, da wirst du todsterbenskrank!“
– „Die Medikamente die du nimmst, schaden dir mehr als deine Krankheit.“ Anmerkung hierzu: Durch die Medikamente hat sich erst die Sterblichkeitsrate der an SLE Erkrankten verringert und die Lebensqualität erhöht.
– „Wann wirst du endlich wieder gesund?“
– „Aber du siehst gut aus, richtig erholt!“ Endlich mal jemand, der die Cortisonbäckchen und fieberstrahlenden Augen zu würdigen wusste.

Bei SLE handelt es sich grob gesagt, um ein fehlgesteuertes Immunsystem, dass sich gegen körpereigenes Gewebe richtet. Dadurch entstehen entzündliche Prozesse, die mehr oder weniger großen Schaden anrichten können. Bevorzugt findet man diese Prozesse in Haut (dazu gehört auch Schleimhaut), ZNS, Herz und Niere. Das Immunsystem fährt dabei seine ganze raffinierte Palette an Abwehrmechanismen auf: Es wird nicht nur das fälschlicherweise als fremd/schädlich erkannte Gewebe zerstört, sondern es wird sich auch vom Immunsystem gemerkt. So kommt es, dass die Entzündungen immer wieder an den selben Stellen auftreten können.
Wenn man sich einmal vor Augen führt, wo im Körper überall Haut bzw. Schleimhaut zu finden ist, dann erklärt das vielleicht die häufig sehr bunte Symptomatik des SLE. Nicht nur Verdauungstrakt und Organe sind von Haut ausgekleidet, auch Knochen, Gelenke und Blutgefäße. Dem Immunsystem sind keine Grenzen gesetzt, es kann sich auch gegen körpereigene Hormone, Botenstoffe und Blutbestandteile richten, was beim SLE nicht selten vorkommt.
Nur weil ein Lupus-Kranker also nicht gerade eine äußerlich sichtbare Hautentzündung hat, heißt das noch nicht, dass er gerade bei bester Gesundheit oder „geheilt“ ist.
Die Krankheit gestaltet sich unkalkulierbar. Sie kann nicht nur dem Betroffenen das Leben zur Hölle machen, sondern auch dem behandelnden Arzt, der unterscheiden soll, ob die gerade ablaufenden Prozesse vom Lupus kommen oder von einer Infektion. Eine Infektion mit Cortison zu behandeln wäre ziemlich fatal, eine lupus-bedingte Entzündung mit Antibiotika zu behandeln ziemlich uneffektiv. Es können an vielen Stellen des Körpers Entzündungen entstehen, die langsam fortschreiten oder plötzlich auftreten. Die Entzündungen können sich lange auf bestimmte Bereiche beschränken und sich dann allmählich oder schnell auf andere Bereiche ausweiten. Diese Unkalkulierbarkeit macht es Lupus-Kranken schwer die Krankheit ein zu schätzen und Außenstehenden noch schwerer sie zu verstehen.
Leider gibt es keine Tablette, die dem Immunsystem sagt, was „gut“ und „böse“ ist, aber es gibt immerhin Medikamente, die das Immunsystem in seiner Aktivität bremsen. Es muss aber immer noch aktiv genug bleiben, um sich gegen Infektionen wehren zu können und es ist nicht einfach da die „goldene Mitte“ zu finden. Eine geringe Krankheitsaktivität des SLE lässt sich also auch bei einer ausgeklügelten Therapie nicht verhindern, aber man erreicht zumindest eine gewisse Schadensbegrenzung.
Das Glück des Lupus-Kranken ist die Tatsache, dass der Organismus stets darum bemüht ist, entstandene Schäden wieder auszubessern. Er hat dabei seine ganz eigene Art der Schadensbegrenzung, nach dem Motto: „Hauptsache repariert“. Dabei können Vernarbungen entstehen, die selber wieder Beschwerden verursachen, bleibende Funktionseinschränkungen, chronische Schmerzen und auch bösartige Entartungen, wenn ständig an derselben Stelle ausgebessert werden muss. SLE-Kranke bekommen ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken, gratis mit auf ihren Weg. Dazu gibt es Ratschläge von medizinischen Laien, wie man sein Immunsystem anregen kann. Vielen Dank dafür!

von Claudia

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