Sie war klein und zart und schon sehr alt. Sie musste in der Nähe wohnen. Sie war aus dem Bus gestiegen. Jemand hatte ihr zwei Beutel herausgereicht. Jetzt sah sie mich freundlich an. „Können Sie mir bitte die Tasche tragen?!“
Ich war mir nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Aufforderung war. Sie übergab mir beide Tüten. Ich musste sie an einer Hand tragen, auf der anderen Seite hängte sie sich an meinen Arm. Ich hätte nicht gedacht, dass eine alte Dame derart vollgepackte Taschen hat. „Nur darüber“, meinte sie.
Wir standen an der Fußgängerampel, die gottseidank bald grün wurde. Bis da drüben würde es gehen. Sie ging langsam, erzählte, dass sie auf den Bus warten musste. Sie war froh, dass die Haltestelle vor dem Supermarkt war. Ich wünschte, sie käme schneller voran. Aber sie war alt. Die Taschen wurden verdammt schwer. „Wo wohnen Sie denn?“, wollte ich wissen. „Da vorn“, antwortete sie und deutete auf die Nebenstrasse.
Ich schätzte ihren Einkauf ab. Das waren mindestens zwei Flaschen Saft, Milch, Brot, Obst und Kekse. Vielleicht auch noch mehr. Insgeheim verfluchte ich die Alte und mich selbst. Was wollte sie mit all den Sachen? Ich musste jeden Tag einkaufen gehen, weil ich es sonst nicht schaff. Jetzt hing sie mir am Arm und ich musste ihre Plünnen tragen. „Haben Sie sonst jemanden, der Ihnen hilft?“, fragte ich. Meine Großmutter würde sagen, dass sie in die Erde wächst. Heute heißt das Osteoporose. Sicher taten ihr alle Knochen weh; mir aber auch. „Doch, die Nachbarn helfen schon.“ Und wo waren die jetzt? Waren die froh, dass es mich getroffen hat?
Sie erzählte, dass sie mit einer Fahrkarte zum Supermarkt und zurückkommt. Sie wird eine kleine Rente haben, darum fährt sie wohl nicht so oft. Sie fing an zu plaudern. Aha, das war so eine Art Kontaktaufnahme. Ich konnte nicht einmal die Seite wechseln, die Taschen in die andere Hand nehmen, sie gleichmäßig auf rechts und links verteilen. Ihre ganze Gestalt verriet, dass sie mich brauchte.
Sie war alt, krank, allein. Ich konnte sie nicht stehen lassen. Es wäre erschreckend und beschämend, würde ich ihr jetzt die Wahrheit sagen. Ich hätte es früher machen sollen. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte freundlich zu sein. „Ich wohn in den Neubauten“, sagte sie. „Gibt es da einen Aufzug?“ „Ja, aber ich lass die Taschen unten stehen. Die bringen die Nachbarn rauf.“ Wir mussten noch über die Straße und drei Häuser weiter. An den Stufen zum Eingang, nahm sie ihre Einkäufe entgegen und bedankte sich. Ich war froh, dass sie sich auf diese Art vor Überfällen schützte.
Nie wieder würde ich ihre Taschen tragen. Nächstesmal würde ich sagen: „Es tut mir leid. Man sieht es mir nicht an, aber ich bin sehr krank.“ Dann würde ich sie freundlich grüßen. Vielleicht würde ich fragen, wie es ihr geht.
Saitenzart aus Berlin